Carl Rathjens – Geograf und Nonkonformist

Der Hamburger Geograf Carl Rathjens ist überhaupt erst zu entdecken. Der große und sensible Forscher und Reisende hat in seiner Lebensspanne von der Geburt 1887 in Elmshorn bis zu seinem Tod in Hamburg 1966 das "Jahrhundert der Extreme" (Eric Hobsbawm) durchmessen. Für seine politischen Werturteile hat er einen hohen persönlichen Preis bezahlt, den Preis des Außenseitertums. Carl Rathjens, ein "Kenner der außereuropäischen Welt", hat wissenschaftliche Bücher, Essays, Fachartikel und journalistische Berichte hinterlassen. Stefan Buchens Biografie stellt eine Persönlichkeit und einen aufmerksamen Zeitzeugen vor, von dem bislang kaum etwas bekannt war.

Rathjens studierte ab 1906 Geografie und Zoologie in Kiel, Berlin und München. 1908 unternahm er eine Forschungsreise nach Abessinien, über das er 1911 promovierte. Seine "Landeskunde von Abessinien" (1911) verficht die These "vom Eingepflanztsein allen Lebens, auch des menschlichen, in die geografischen Bedingungen, woraus eine wechselseitige Abhängigkeit von Mensch und Natur folgt" 1921 publizierte er das erste wissenschaftliche Buch über die "Juden in Abessinien" (1921), die mehrheitlich Ende des 20. Jahrhunderts nach Israel auswanderten.

Von hier an entfaltete sich ein Wissenschaftlerleben im Dreieck zwischen Europa, jüdischer und islamischer Welt. Zu Europa ging der Geograf Rathjens auf Distanz. Der Kontinent hatte sich im Ersten Weltkrieg selbst zerfleischt und – so sah es Rathjens – vor der Welt bloßgestellt. Dennoch hielt Europa an dem Anspruch fest, die Welt weiter zu beherrschen. Dieses Paradoxon machte Rathjens zum Kolonialismuskritiker. Im Jemen auf der Arabischen Halbinsel beobachtete er, wie die europäischen Kolonialmächte und die neuen aufstrebenden Akteure USA und Sowjetunion um Einfluss auf ein altes, noch unabhängiges Königreich rangen. Den islamischen Herrscher, Imam Yahya von Jemen, kannte Rathjens persönlich. Viermal reiste er zwischen 1927 und 1937 dorthin, die ersten beiden Male im Auftrag des Hamburgischen Welt-Wirtschaftsarchivs.

In Sanaa, Jemens "malerischer" Hauptstadt, lernte Rathjens auch die jüdische Gemeinde kennen, die ihn faszinierte. Kritisch kommentierte er um 1930 die zionistischen Bestrebungen, die jemenitischen Juden zur Auswanderung nach Israel/Palästina zu bewegen. Sein Blick auf den Zionismus änderte sich, nachdem die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen. 

Rathjens wurde gleich 1933 aus seiner Stellung beim Hamburgischen Welt-Wirtschaftsarchiv entlassen. Er galt dem NS-Regime als "politisch unzuverlässig". An den Fronten des Ersten Weltkriegs hatte er als Soldat und Offizier die Folgen des deutschen Nationalismus zu spüren bekommen und kritisch reflektiert. Vom Revanchismus nach der Niederlage, dem Nährboden des Nationalsozialismus, distanzierte er sich früh. Er erkannte auch, wie eng der Antisemitismus mit diesem militaristischen Revanchismus verknüpft war. 
Nach 1933 erlebte Rathjens, selbst Außenseiter, wie viele jüdische Bekannte aus Hamburg und Deutschland flüchteten, einige nach Israel/Palästina. Um sich wirtschaftlich über Wasser zu halten, heuerte er Ende 1933 bei einem jüdischen Waffenhändler in Hamburg, Moritz Magnus, an. In dessen Auftrag exportierte er Waffen an den Herrscher von Jemen. Ein Regimegegner, der für einen jüdischen Waffenhändler aus Hamburg Rüstungsgüter in Arabien verkauft: das konnte im Nationalsozialismus kein Modell auf Dauer sein. Magnus wurde in Auschwitz ermordet. Rathjens landete 1940 im KZ. 

Die Nationalsozialisten ließen ihn wieder frei, weil sie Rathjens brauchen zu können glaubten. Dies ist das wohl erstaunlichste Kapitel in Rathjens´ Leben. Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) hatte die Idee, den Krieg auf die Arabische Halbinsel zu tragen. Der Auslandsgeheimdienst der Nazis wollte den Arabienkenner mit der Luftwaffe nach Jemen fliegen, damit er Imam Yahya zum Kriegseintritt an der Seite des "Dritten Reichs" überredet. Wie der Plan vom RSHA an Rathjens herangetragen wurde und wie er sich gegen die Ausführung wehrte, ist in Briefwechseln und Berichten, die alle in Rathjens´ Nachlass erhalten sind, gut dokumentiert. Es sind verblüffende Zeugnisse davon, wie ein einzelner zäher und mutiger Mann der "Kerngruppe des Nationalsozialismus" (Ulrich Herbert) die Stirn bot. Im Sommer 1942 ließen die Nazis den Jemen-Plan fallen. 

Nach 1945 haben sich viele als Oppositionelle oder gar Widerständler inszeniert, obwohl sie in Wirklichkeit Mitläufer oder sogar Täter gewesen waren. Rathjens war tatsächlich ein Regimegegner. Vielleicht ist er auch deshalb nach 1945 so unbekannt und ein Außenseiter geblieben. Denn er hatte der Mehrheitsgesellschaft den Spiegel vorgehalten. Genau das tat er auch, als er 1947 die Doktorarbeit der in Auschwitz ermordeten Hamburger Arabistin Hedwig Klein drucken ließ. Die Universität hatte der jungen Wissenschaftlerin 1938 trotz bestandener Prüfung das "Imprimatur" verweigert, weil sie Jüdin war. Rathjens hatte ihr im August 1939 eigentlich schon zur Flucht nach Indien verholfen. Sie scheiterte, weil das Schiff wegen des Kriegsbeginns zur Umkehr nach Hamburg gezwungen wurde. 

Diese "anregende und reichhaltige Biografie", so Moshe Zimmermann in seinem Vorwort, zeichnet Carl Rathjens Forscher- und Abenteurerleben nach – die Lebensgeschichte eines ebenso selbstbewussten wie sensiblen Nonkonformisten.

Die Publikation erscheint im Wallstein Verlag und kann direkt dort oder im Buchhandel (ISBN 978-3-8353-5407-4) bestellt werden.